Jessie Cox
Jessie Cox

Discussing Diversity mit Jessie Cox

  • Jessie Cox

    Der Schweizer Künstler Jessie Cox ist einer der schamlosesten experimentellen Komponisten der Welt und macht Musik über das Universum und unsere Zukunft darin. Mit Avantgarde-Klassik, experimentellem Jazz und Klangkunst hat er seine eigene Art von musikalischer Science-Fiction entwickelt, die die Frage stellt, wohin wir als nächstes gehen.

    Jessie Cox ist ein kritischer Theoretiker, Komponist, Drummer und Pädagoge, der derzeit seinen Doktortitel an der Columbia University anstrebt. Er ist in der Schweiz aufgewachsen und lebt derzeit in New York City. Er hat Aufträge von wichtigen Ensembles aus der ganzen Welt erhalten, und präsentiert gleichzeitig auch regelmässig Konzerte als Drummer. Seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden in zahlreichen renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht.

Deine Musik vereint Einflüsse des Jazz, der zeitgenössischen Klassik und der Sound Art. Mit welchen Mitteln schaffst du das Nebeneinander dieser sehr vielfältigen Stile?

Vielen Dank für diese Frage. Die historische Entwicklung zweier Kategorien – hier der Jazz, dort die Klassik – ist selbst verwickelt in Antiblackness: Die Kategorien werden nach Hautfarbe abgegrenzt. Genauer: Sie werden benutzt, um schwarze Musiker*innen auszugrenzen. Sie haben weniger mit der Praxis der Musiker*innen oder mit deren Einflüssen zu tun als vielmehr mit ökonomischen und institutionellen (und deren physikalischen) Räumen. In diesem Sinne bin ich nicht besonders interessiert an Genres, sondern eher an ästhetischen (und politischen und gesellschaftlichen) Praktiken.

In deiner Forschungsarbeit vereinst du Recherchen der Black Studies mit musiktheoretischen und -historischen Untersuchungen. Wo hast du dabei die erstaunlichsten Überschneidungen oder Diskrepanzen gefunden?

Musikwissenschaft als Feld hat sich noch sehr wenig mit seiner Geschichte, die mit Antiblackness verwickelt ist, auseinandergesetzt. Auf der anderen Seite kennt Black Studies viele Autor*innen, die selbst mit und über Musik nachdenken – und das schon länger, als es Black Studies als akademische Disziplin gibt. Diese Forschung muss man ebenso als musikwissenschaftliche Tätigkeiten sehen, auch wenn sie in der Musikwissenschaft nicht immer allgemein bekannt sind. Black Studies geht für mich ohnehin über eine akademische Disziplin und sogar über die akademische Welt hinaus, da es immer auch auf der Bühne praktiziert wurde: Von der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) bis zu Sun Ra, zu Count Ossie, zu Sojourner Truth und vielen anderen. Meiner Meinung nach sind wir heute in einer aufregenden Zeit, weil die Musikwissenschaft sich langsam mit Black Studies auseinandersetzen muss (was dies bringen wird, werden wir sehen, es ist noch offen). Klar aber ist, dass Black Studies die Fragen unserer Welt betrifft, vom Klimawandel über das Internet bis zur Definition, was es heisst, ein*e Bürger*in zu sein. Black Studies ist Teil all dieser Fragen.

Klassische Musik ist immer noch sehr weiss, das kann man nicht schönreden. Aber hast du das Gefühl, dass hier langsam ein Umdenken im Gang ist? Und wenn nicht: Warum nicht?

Wenn wir in jeder Situation darüber nachdenken, wie wir Antiblackness bekämpfen können, dann sind wir in einem Umdenken. Das heisst auch, dass aus dem Denken Handlungen hervorgehen müssen und dass diese wiederum zum Weiterdenken führen sollten. Aber was mir am Wichtigsten ist: Dass uns bewusst wird, dass wir das Problem von Antiblackness nicht einfach lösen und dann weitergehen können zu anderen Dingen. Gleichzeitig ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Blackness auch ein Anknüpfungspunkt für die Lösung von Problemen wie Sexismus, Armut und Klimazerstörung.

Im Einführungsvideo, das du zu Alongside a Chorus of Voices gedreht hast, stellst du dir die Frage, «wie wir einen Raum kreieren können, der Black Lives willkommen heisst?». Hast du durch deine Arbeit Ansätze gefunden, wie ein Konzerterlebnis zu einem einladenden Raum für Menschen jeder Hautfarbe werden kann?

Diese umfassende Frage kam auf durch die spezifische Situation der Schweiz und der neuen Musik in der Schweiz (und natürlich durch das neue Lucerne Festival Forward). Man muss sich bewusst sein, dass eine solche klar verortete Frage nur zu einer allgemeinen werden kann, wenn man genauer über das Beispiel nachdenkt. Es ist wichtig aufzuzeigen, wie in der Schweiz die Frage von Antiblackness oft heruntergespielt wird: durch die Überzeugung, dass Black woanders ist – sei das nun in Amerika, in Afrika oder irgendwo anders. Diese Ideologie, welche die Schweiz als nicht-Black positioniert, kann bestärkt werden, wenn man Schwarze willkommen heisst als positioniert «von woanders» (wie es beispielsweise Ch. Didier Gondola im vergleichbaren Fall von Frankreich analysiert hat). Dieses Beispiel zeigt uns zwei Dinge: Einerseits wie Antiblackness weiterhin präsent sein kann, auch wenn es einige (oder sogar mehrere) Schwarze im Raum hat. Und anderseits zeigt es auf eine Frage des Raumes selbst, dass ein «Willkommen-Heissen» einiger auch nicht unbedingt immer heisst, dass der Raum rassistische Systeme nicht mehr unterstützt.
Weiterhin ist da die Frage nach Lucerne Festival Forward als Teil der neuen Musik. In diesem Sinne ist das Festival zum Beispiel ein internationaler Treffpunkt rund um eine Musikform, die Ressourcen erhält, ohne für das Publikum bequem sein zu müssen, und gleichzeitig frei von vorhersehbaren Resultaten sein kann – und das heisst, es reicht über die Schweiz hinaus, auch wenn es von der Schweiz ausgeht. In diesem Sinne hat diese Musik also die Möglichkeit, Dinge zu adressieren, die alles andere als einfach sind, und mit neuen Formen des Zusammenseins zu experimentieren. Dazu müssen wir aber den Raum dieser Musik so gestalten, dass er dies ermöglicht und nicht Systeme, die anti-black sind, weiterführt.
In diesem Sinne ist meine Frage also nicht eine, die eine Antwort sucht, denn es gibt keine einfache Antwort, die die Frage verschwinden lässt. Es ist vielmehr eine Frage, die ich an die Schweiz stelle und auch an die neue Musik, an Lucerne Festival. Es ist eine Frage, die als Begleiter gesehen werden soll – ich hoffe, dass alle diese Frage immer mit sich tragen. Lass uns eine andere Welt schaffen, von jeder Stelle in dieser Welt aus, damit wir unseren Planeten und die Leben auf ihm retten können.
Vielleicht können wir hier in eine etwas andere Richtung des Denkens gehen und fragen: Was kann die Musik tun? Die Musik kann alles tun! Das haben mich die Beispiele von Musiker*innen wie Count Ossie, dem Sun Ra Arkestra, der AACM, Matïé «Mighty» Chénière, Charles Uzor und vielen anderen gelehrt. Musik als Praxis, um die Welt zu transmutieren, um sie zum Umdenken zu bringen, um neue Welten für Black Lives zu schaffen (und dies durch Musik auch im sozialen und ökonomischen Sinne): Das ist die Grundlage meiner Musik.

Du bist in der Schweiz aufgewachsen, lebst aber mittlerweile in New York. Inwiefern hat der «Diversity»-Diskurs in den USA eine andere Gewichtung und Richtung als in Europa?

Diversity kann ein Hack sein: eine Möglichkeit, den Fuss in die Tür zu kriegen. Das Ziel jedoch ist nicht unbedingt Diversity, da sie nicht automatisch Anti-Blackness bekämpft, sondern selbst Teil davon sein kann. Das bedeutet nicht, das wir nicht inklusiver sein sollten in jeder Hinsicht, sondern dass wir nur mit Pro-Blackness wirklich zusammenkommen können. Lass uns also hier, durch das, was ich persönlich bei Luzern Festival Forward als Möglichkeit erkannt und erhofft habe, ein musikalisches Zentrum um diese Frage, diese Mission, verfolgen: Musizieren als Mittel der Transformation von Welten.

Jessie Cox © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Zur Konzert-Aufzeichnung

«Alongside a Chorus of Voices» von Jessie Cox wurde am 20. November 2021 bei Lucerne Festival Forward uraufgeführt.