candoco dance company «Set and Reset/Reset» © Camilla Greenwell
candoco dance company «Set and Reset/Reset» © Camilla Greenwell

Discussing Diversity mit Flavia Fall

  • Kultur inklusiv / Flavia Fall

    Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis ist das Kompetenzzentrum für inklusive Kultur in der Schweiz. Die Fachstelle versteht Inklusion als Mehrwert und gesellschaftlichen Prozess, den sie im Kulturbereich schweizweit mit anstösst und begleitet. Kern der Fachstelle ist das Label «Kultur inklusiv». Dieses erhalten Kulturinstitutionen, die Inklusion in der eigenen Institution oder Organisation nachhaltig initiieren und vorantreiben – gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen und mit dem Ziel, dass Menschen mit Behinderungen am Kulturleben teilnehmen und es mitgestalten.

    Flavia Fall ist verantwortlich für Performing Arts in der Deutschschweiz. Sie hat an der ZHdK visuelle Kommunikation studiert, war während vierer Jahre Geschäftsführerin von «Sensability Bern – Experten für Inklusion» und Co-Leiterin von Fotografiekursen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bei der «volkshochschule plus» in Bern.   

Spricht man über «Diversity», so kommen rasch die Gender-Thematik oder das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft zur Sprache. Haben Sie das Gefühl, dass die Inklusion in dieser Diskussion manchmal zu kurz kommt?

Das Zusammenleben in einer diversen Gesellschaft ist dann inklusiv, wenn alle verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen teilhaben können an Kultur, Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Familienleben usw. Damit dies möglich ist, müssen Barrieren abgebaut werden. Das Beseitigen einer bestimmten Barriere dient meistens mehreren Zielgruppen. Zum Beispiel sind stufenlose Zugänge nicht nur für Menschen im Rollstuhl, sondern auch für Eltern mit Kindern im Kinderwagen eine Erleichterung. Oder eine einfache Sprache wird nicht nur von Menschen mit kognitiven Behinderungen besser verstanden, sondern auch von fremdsprachigen oder bildungsfernen Bevölkerungsgruppen. Deshalb finde ich die Idee sinnvoll, dass wir Inklusion ganzheitlicher und nicht nur auf Menschen mit Behinderungen bezogen denken. Gleichzeitig ist es entscheidend, nicht länger für Menschen mit bestimmten Bedürfnissen, sondern mit ihnen zusammen zu handeln, unabhängig davon, welche Ausschlussmechanismen sie erleben. Geht es also um Themen von Menschen mit Behinderungen, sind sie selber die Expert*innen und müssen zwingend von Anfang an in Prozesse einbezogen werden, damit Barrieren gar nicht erst entstehen.

Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis ist das Kompetenzzentrum für inklusive Kultur in der Schweiz. Seit 2014 begleiten und beraten Sie Kulturinstitutionen und fördern damit die Teilhabe und Mitgestaltung von Menschen mit Behinderungen am Kulturleben. Auf welche Errungenschaft der Fachstelle in diesen acht Jahren sind Sie besonders stolz? Wo gibt es noch besonders viel zu tun?

Wir sind stolz auf die vielen Kulturinstitutionen, die sich mit unserem Label «Kultur inklusiv» für Inklusion engagieren. Aus dem Mitte 2014 im Kanton Bern gestarteten Pilotprojekt hat sich die Fachstelle in die ganze Schweiz ausgeweitet. Die Jahre 2020 bis 2023 stehen im Zeichen der inklusiven Nachhaltigkeit und der Leitlinien unserer «Charta zur kulturellen Inklusion». Mit 300 Stellenprozente aufgeteilt auf fünf Mitarbeiterinnen beraten und vernetzen wir rund 80 Labelpartner  und Kulturförderstellen. Regelmässig erhalten wir Anfragen von neuen Kulturbetrieben für eine Labelpartnerschaft, denen wir aus Kapazitätsgründen leider nur noch begrenzt nachkommen können. Um dennoch eine nachhaltige Wissensvermittlung über inklusive Kultur zu sichern, erstellen wir Handbücher, Merkblätter und Listen, die auf unserer Website für alle frei zugänglich sind. Wir sind überzeugt davon, dass Inklusion regional gefördert und verankert werden muss, weshalb wir zurzeit viel Herzblut in das Projekt «Netzwerkaufbau inklusive Kultur» in drei ausgewählten Regionen stecken. Menschen mit Behinderungen sollen dabei gemeinsam mit Kultur- sowie Sozialakteuren Beratungsstrukturen für Kulturangebote schaffen, die ihren Bedürfnissen entsprechen.
Wir beobachten, dass Inklusion aktuell noch hauptsächlich auf Publikumsebene gedacht und umgesetzt wird. Auf den Bedarf von baulichen und inhaltlichen Zugangsmassnahmen sind viele Kulturbetriebe mittlerweile sensibilisiert. Anders sieht es auf und hinter der Bühne aus. wo erst wenige Menschen mit Behinderungen als Künstler*innen und im Team arbeiten. Für dieses Ziel müssen aber auch Ausbildungsstätten inklusiver werden.

Wo sehen Sie besondere Chancen oder Schwierigkeiten, wenn es konkret um Inklusion in der klassischen Musik geht?

Viele Konsument*innen klassischer Musik gehören der älteren Generation an und bringen Behinderungen durch das Alter mit. Aus diesem Grund sind Aufführungsorte von klassischer Musik oft baulich und inhaltlich zugänglich, damit Gäste im Rollstuhl, am Rollator gehend, aber auch jene mit Hörgerät oder Brille sich wohl fühlen. Wichtig sind zum Beispiel Höranlangen, ausreichende Beleuchtung des Publikumsbereiches, eine übersichtliche Signaletik und eine genügend grosse sowie kontrastreiche Schrift im Programmheft.
Leider gibt es nach wie vor sehr wenige professionelle Musiker*innen mit Behinderungen auf der Bühne. Zudem erschwert das traditionelle, relativ starre und exklusive Setting eines klassischen Konzertes Inklusion per se. Es braucht also Mut, um neue Wege zu gehen. So ist es in der Schweiz zum Beispiel pionierhaft, dass sich unser Labelpartner Luzerner Sinfonieorchester relaxed performances vornimmt. In diesem Format werden viele gängige Konventionen aufgehoben zugunsten eines niederschwelligen Zugangs für ein vielfältiges Publikum.

Sie leben selbst mit Mobilitätsbehinderung und sind im Rollstuhl unterwegs. Wann ist für Sie persönlich ein Konzertbesuch besonders gelungen?

Wenn ich keine Umwege fahren muss. Dies wörtlich, aber auch im übertragenen Sinn: Wenn ich als Rollstuhlfahrerin wie alle anderen auf der Website mein Ticket (einen Rollstuhlplatz) buchen kann. Wenn ich durch den Haupteingang Zugang habe zum Konzerthaus und nicht nur durch die Hintertür. Wenn ich den Lift einfach finde und selbständig benutzen kann, ohne Schlüssel, den ich vorher auftreiben muss. Wenn ich zusammen mit meinen Freund*innen oder meiner Familie im Konzert neben ihnen sitzen kann und nicht nur neben einer einzelnen ausgewählten Begleitperson. Kurzum: Wenn alle Selbstverständlichkeiten für Besucher*innen ohne Behinderungen auch für mich gelten, dann sind die Weichen gestellt für einen gelungenen Konzertbesuch, bei dem mich dann idealerweise auch die Musik berührt.