Contemporary-Dramaturg Mark Sattler im Interview mit Jörg Widmann, dem designierten künstlerischen Leiter der Lucerne Festival Academy, und Sebastian Nordmann, Intendant von Lucerne Festival ab 2026
Mark Sattler: Jörg Widmann, wofür steht Lucerne Festival für Sie? Sie waren 2009 composer-in-residence. Welche Erinnerungen haben Sie daran? Gibt es ein spezielles Konzert oder Highlight, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
Jörg Widmann: Lucerne Festival steht für mich für die Verbindung höchster künstlerischer Exzellenz mit einem neugierigen, experimentellen Geist. Eine Aufführung der Ersten Sinfonie von Gustav Mahler mit Claudio Abbado und dem Lucerne Festival Orchestra im Jahr 2009 war für mich unvergesslich. Das Wirken von Pierre Boulez beim Festival, namentlich seine bahnbrechenden Aufführungen von Musik der Zweiten Wiener Schule mit dem Orchester der Akademie habe ich unzählige Male auf Video gesehen.
Mark Sattler: Die Lucerne Festival Academy wurde von Pierre Boulez und Michael Haefliger vor über 20 Jahren gegründet, 2016 übernahm Wolfgang Rihm seine Nachfolge. Sie kennen beide gut, haben mit Boulez gearbeitet, bei Wolfgang Rihm studiert, der Ihnen viele Werke für Klarinette widmete. Was bedeutet es Ihnen, Rihms Nachfolge in dieser Rolle anzutreten?
Jörg Widmann: Natürlich in erster Linie eine riesige Verantwortung. Ich war mit beiden eng verbunden, insofern handelt es sich in der Tat um eine schöne Kontinuität. Als Pierre Boulez bei Lucerne Festival begann, hat er etwas nachgeholt, was in der Musikwelt in den Jahrzehnten zuvor viel zu wenig gepflegt worden war: das explizite Lehren der Musik des 20. Jahrhunderts in Form von Nachwuchs-, Ensemble- und Orchesterarbeit. Dieses Repertoire kam dank seiner Qualitäten als Dirigent und seiner charismatischen Persönlichkeit in exemplarischen Interpretationen bei Lucerne Festival zur Aufführung. Wolfgang Rihm hingegen hat bleibende Spuren in der Arbeit mit den jungen Komponistinnen und Komponisten durch seine Lehrtätigkeit in der Academy hinterlassen.
Heute scheint es mir wichtiger denn je, darauf aufbauend die zeitgenössische Musik noch mehr in den traditionellen Konzertprogrammen zu verankern und Brücken zu schlagen zwischen den Meisterwerken der Vergangenheit und der heutigen Musik. Die heute komponierte Musik noch selbstverständlicher und sichtbarer zu machen, ist das Ziel.
Mark Sattler: Sie kennen die internationale Neue Musik-Branche bestens – wie ordnen Sie die Lucerne Festival Academy ein? Was macht die Lucerne Festival Academy aus?
Jörg Widmann: Im Rahmen der Lucerne Festival Academy können Interpreten, Komponisten und Dirigenten die zeitgenössische Musik ganz praktisch einstudieren, in Workshops, Proben und öffentlichen Konzerten, und letztendlich können sie sie auch zur Aufführung bringen. Das ist in dieser Form und in diesem Umfang einmalig.
Mark Sattler: Als Veranstalter zeitgenössischer Musik muss man sich oft anhören, man müsse sich mehr öffnen, weniger elitär sein. Was sagen Sie dazu?
Jörg Widmann: Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: Man muss die Dinge zusammen denken! Elitenförderung sollte immer an Breitenförderung geknüpft sein, Spitzensport immer an Breitensport. Wenn es uns gelänge, noch mehr Menschen für die zeitgenössische Musik zu begeistern, wäre das wunderbar. In unserem jeweils im November stattfindenden Forward-Festival wollen wir das versuchen, indem wir zeitgenössische Musik mit – wie ich es ausdrücken würde – zeitgenössischer, heutiger Musik aus früheren Jahrhunderten zu verbinden. Zeitgenossenschaft über Jahrhunderte hinweg. Wie sehr Spitzenförderung der Allgemeinheit zugutekommen kann, sieht man ja gerade daran, dass die damals jungen Musikerinnen und Musiker des Lucerne Festival Contemporary Orchestra, die damals mit Pierre Boulez gemeinsam Grundlagenarbeit geleistet haben, heute selbst in bedeutenden Ensembles und Orchestern tätig sind und an den Akademien der Welt ihr Wissen an die zukünftige Generation weitergeben. Und genau zu diesem Zweck werden wir weiterhin versuchen, die weltweit vielversprechendsten jungen Kräfte in den Bereichen Komposition, Dirigieren und Musizieren jeden Sommer nach Luzern zu holen!
Mark Sattler: Erzählen Sie uns von Ihrer Zusammenarbeit mit Sebastian Nordmann. Was schätzen Sie an ihm?
Jörg Widmann: Seine Neugier und Offenheit. Alles kann gedacht werden! Sowohl für ihn, nach seiner erfolgreichen Zeit am Konzerthaus Berlin, als auch für mich in meinem künstlerischen Leben ist die Aufgabe in Luzern eine neue und spannende Herausforderung, die wir beide mit Tatendrang und Enthusiasmus annehmen und angehen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Mark Sattler: Sebastian Nordmann, woher kennen Sie Jörg Widmann?
Sebastian Nordmann: Kennengelernt habe ich Jörg zunächst als faszinierenden Klarinettisten, er hat eine unglaublich breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten und -farben. In meinen Berliner Jahren als Intendant des Konzerthauses und des Konzerthausorchesters konnte ich ihn mehrmals als Dirigenten einladen, was aufgrund seines vollen Terminkalenders gar nicht so leicht war. Parallel habe ich einige Uraufführungen seiner Werke erlebt, ich bin ein grosser Fan seiner Musik. Seine Residenz-Konzerte bei den Berliner Philharmonikern haben mich tief berührt und begeistert.
Mark Sattler: Gibt es da einen speziellen Moment in der bisherigen Zusammenarbeit, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Sebastian Nordmann: Ja, unbedingt! Und zwar unser Treffen in Berlin, als ich ihn gefragt habe, ob er Nachfolger von Wolfgang Rihm als künstlerischer Leiter der Academy bei Lucerne Festival werden möchte. Es wurde ein langer Abend mit vielen tiefgehenden Themen und dem beidseitigen Wunsch, gemeinsam einen wichtigen Beitrag für die klassische und zeitgenössische Musik zu leisten und das Publikum zu begeistern.
Mark Sattler: Warum haben Sie Jörg Widmann als neuen künstlerischen Leiter der Akademie ausgewählt?
Sebastian Nordmann: Er ist wie ein Schweizer Taschenmesser: Hat man Jörg an Bord, kann eigentlich nichts schiefgehen. Er schafft es, mit Humor, Wissen und musikalischer Begabung, Musiker und das Publikum mitzureissen, egal ob es um traditionelle oder zeitgenössische Musik geht. Seine Kompositionen sind ein Sinnbild dafür: Sie sind unglaublich intensiv, mit einer grossen Dichte, oftmals mit Reminiszenzen an die Musikgeschichte und mitunter mit einem zwinkernden Auge.
Mark Sattler: Was bringt er mit? Warum ist er der Richtige als neuer Leiter dieser Institution?
Sebastian Nordmann: Jörg hat nicht nur Erfahrungen im Umgang mit dem Publikum und Orchestern, sondern ist auch ein begeisterter Pädagoge. Sein umfangreiches Wissen gibt er seit Jahren an die nächste Generation weiter. Der Akademiegedanke von Pierre Boulez bei der Gründung war ja die zeitgemässe Ausbildung im Bereich der zeitgenössischen Musik. Ihm und Michael Haefliger war es ein grosses Anliegen, der nachkommenden Musikergeneration mit der Lucerne Festival Academy eine Institution zu schaffen, über die sie zum einen ihre Ausbildung am Instrument weiterentwickeln können und wo sie zum anderen die Möglichkeit haben, mit renommierten Komponisten wie Unsuk Chin, Dieter Ammann oder dem jeweiligen composer-in-residence zu arbeiten, aber auch mit dem einzigartigen Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung berühmter Dirigentinnen und Dirigenten.
Mark Sattler: Was braucht die Akademie, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein, und wie kann Jörg Widmann dazu beitragen?
Sebastian Nordmann: Diese Akademie ist weltweit ein Unikat. Das weltweit bekannte KKL Luzern, die zauberhafte Altstadt mit dem Vierwaldstättersee, die namhaften Dirigenten und Solisten, die professionelle Struktur und die zahlreichen Proben- und Konzertmöglichkeiten im Bereich der zeitgenössischen Musik machen diese Akademie so unverwechselbar. Jörg Widmann passt perfekt in die Reihe «Boulez-Rihm» und wird das Erbe der Akademie fürsorglich bewahren und entwickeln.
Das Interview wurde im Mai 2025 schriftlich geführt.