Winnie Huang © Lucerne Festival
Winnie Huang © Lucerne Festival

Über die Ton- und Videoaufnahmen für Liza Lims neues Werk im Eigental bei Luzern

2016 schrieb Liza Lim ein Werk für Sheng und Ensemble mit dem Titel How ForestsThink, basierend auf dem gleichnamigen Buch des Anthropologen Eduardo Kohn. Kohn erforscht, wie Indigene im Regenwald des Amazonas mit der Natur zusammenleben. In diesem bahnbrechenden, jüngst auch auf Deutsch erschienenen Buch (Wie Wälder denken) zeigt Kohn auf, was wir vom hyperkomplexen System Natur lernen können für die Bewältigung der von Menschen verursachten Probleme, insbesonders unseres Umganges mit der Natur. Ein neues Paradigma wird entworfen, das die seit der Aufklärung dominierende Trennung von Geist und Natur aufhebt. Der Mensch wird als Teil einer höheren «Natur»-Ordnung gesehen. An diese Weltsicht knüpft Liza Lim in vielen ihrer Werke an, u.a. auch in dem 2021 bei Lucerne Festival Forward aufgeführten Extinction Events and Dawn Chorus; sie ist Grundlage und Ausgangspunkt für ihre «ökologische» Kunst.

Für Liza Lims neueste Komposition Multispecies Knots of Ethical Time für 15 Musiker*innen, Gestural Performer und Video (ein Auftragswerk von Lucerne Festival, Uraufführung am 18. November 2023 im Rahmen von Lucerne Festival Forward im Konzertsaal des KKL Luzern) fanden am 28. Juni 2023 Film- und Tonaufnahmen im Eigental bei Luzern statt.

Das Eigental liegt unterhalb des Pilatus-Bergmassivs. Durch das gesamte Tal schlängelt sich der Bach Rümlig. An drei Stellen des Bachs wurde gefilmt und wurden Tonaufnahmen gemacht.

Winnie Huang, Maude Gobet und Morena Barra © Lucerne Festival
Winnie Huang, Maude Gobet und Morena Barra © Lucerne Festival

Das Team unter der Leitung von Liza Lim bestand aus der Filmerin Morena Barra und dem Drohnen-Filmer Luca Schmid; die Ton-Aufnahmen machte Maude Gobet. Protagonisten für die Aufnahmen waren ausserdem Winnie Huang, die Solistin des neues Werks, und zwei Geigen. Sie waren «Instrumente des Bachs». Wunderbare Klänge und Bilder konnten aufgenommen werden, welche für Liza Lim Grundlage der Komposition wurden. Das aufgenommene Material wird auch mit Surround-Ton und Videoeinspielung ein elementarer Teil der Aufführung sein.

Über ihre Intention für diese besondere Form der Zusammenarbeit mit einem Bach schreibt Liza Lim:

«Der Rümlig ist voller Stimmen. Er ist ein komplexes Ökosystem, belebt von Pflanzen, Tieren, Vögeln, Insekten, Wassern, Luft, Steine, Erde und mehr. Der Rümlig ist ein sehr melodischer Bach: Pulsierend in allen Tonlagen, mit tiefem Grollen und spritzig wie feinster Champagner fliesst er über Steine aller Formen und Grössen, durch Becken verschiedener Tiefe, durch Höhlen und Kanäle. Wasser und Steine – Widerstand kreiert Musik!»

Mit ihrer «ökologischen» Kunst möchte Liza Lim Verbindungen und Dialoge initiieren, «die weit über den ursprünglichen Konzertkontext hinausweisen»:

«Dies ist ein Stück über Zeit: über unsere eigene Endlichkeit und über die ökologische Krise. Der Protagonist ist ein Fluss – ein Symbol für Vergänglichkeit und (gefährdete) Kontinuität. Im Video von Morena Barra kommuniziert die Performerin Winnie Huang mit den Lebenswelten des Flusses. Die vielfältigen Stimmen des Wesens Fluss ermöglichen es uns, ein radikales Anderssein zu imaginieren und das Gespür für unsere eigene Identität zu erweitern. Dieses Stück ist Teil eines grösseren Projekts, in dem ich die Künste mit umfassenderen Ansätzen verbinde, die sich für eine artenübergreifende Gerechtigkeit einsetzen: für die moralischen, politischen und rechtlichen Ansprüche von Tieren, Pflanzen, Flüssen, Wäldern und Ökosystemen, die mit dem Schicksal und dem Wohlergehen von uns Menschen verbunden sind.»

Liza Lim im Eigenthal © Lucerne Festival
Liza Lim im Eigenthal © Lucerne Festival

Ein Ritual zu Beginn und zum Abschluss der Arbeit im Eigental, ein Brauch, den Liza Lim von den Indigenen in Südostasien kennt, verdeutlicht ein anderes Verhältnis von Mensch und Natur. Liza Lim hatte eine Schale mit Blumen und Früchten vorbereitet, um während der Arbeiten am Rümlig einen temporären Schrein zu eröffnen. Wie einer Person begegnet man der Natur mit Respekt, Höflichkeit und Achtsamkeit:

Anrufung des Flusses

Liebes Eigental, lieber Rümlig
Wir fühlen uns geehrt und sind dankbar, hier in deiner wunderschönen Umgebung zu sein. Wir möchten uns gerne vorstellen: Mein Name ist Liza Lim und ich bin Komponistin. Wir sind hier, um meine Komposition Multispecies Knots of Ethical Time für Lucerne Festival vorzubereiten. Wir möchten hier filmen und Klänge aufnehmen, und wir möchten hier einen kleinen temporären Schrein errichten.
Wir bitten euch demütig um die Erlaubnis, hier mit euch an euren lebendigen Wassern zu arbeiten, und wir respektieren die Ahnengeister und alle Hüter hier und bitten sie um Schutz und Führung. Wir sind hier, um deinen wunderbaren Liedern zu lauschen und mit dir zu singen; wenn wir dich berühren, werden wir von dir berührt; wenn wir beobachten, werden wir von dir beobachtet: das Wasser, das Land, die Vögel und die Tiere; wir bringen dir diese Gaben dar und bitten dich, sie anzunehmen und uns deinen Segen als deine Gäste zu gewähren.

Der temporäre Schrein © Lucerne Festival
Der temporäre Schrein © Lucerne Festival

Mark Sattler | Dramaturgie Contemporary

«Multispecies Knots of Ethical Time» im Konzertsaal erleben