Screenshot of a recording of Kotoka Suzuki's "In Praise of Shadows" with Hyun-Mook Lim, Michael Murphy, and Kotoka Suzuki at Ryogoku Monten Hall, Tokyo. 2025
Screenshot of a recording of Kotoka Suzuki's "In Praise of Shadows" with Hyun-Mook Lim, Michael Murphy, and Kotoka Suzuki at Ryogoku Monten Hall, Tokyo. 2025

Vorhang auf! Lucerne Festival Forward beginnt diesmal in der Box des Luzerner Theaters. Und das ist auch der passende Ort, denn zur Eröffnung unseres Herbstwochenendes für Gegenwartsmusik präsentieren wir fünf Werke im Spannungsfeld von Tönen und Theater, Partitur und Performance, Klang und Körper.

Das ist etwa Georges Aperghis, der im Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, lange an der Hochschule der Künste in Bern lehrte und das experimentelle théâtre musical gerade auch hierzulande entscheiden mitprägte. Mit Ruinen hat er 1994 nicht einfach ein Solostück für Tuba (oder Posaune) vorgelegt, sondern ein äusserst virtuoses Instrumentaltheater: Nervöse Figuren und spannungsvolle Klanggesten treffen auf Passagen, in denen der Tubist bzw. die Tubistin ins Instrument atmet, singt oder spricht. Wobei sich das Sprechen zu immer aggressiveren Ausrufen steigert – man fühlt sich fast an die Kampfschreie in einem asiatischen Martial-Arts-Film erinnert.

Ein instrumentales Mini-Drama hatte auch der 1976 geborene Brasilianer und Aperghis-Schüler Aurélio Edler-Copes im Sinn. In Seul(e) aus dem Jahr 2009 erkundet er «eine beinahe theatralische Situation: Die Harfenistin bzw. der Harfenist versucht etwas zu sagen, schafft es aber nicht.» Zu einem geradezu obsessiv wiederholten Harfenmotiv, das durch das vierteltönig verstimmte Instrument beunruhigend verzerrt klingt, tritt die Stimme des Interpreten bzw. der Interpretin – ausser Atmen vor Aufregung, keuchend, stammelnd und singend. «Je voudrais seulement un peu de …» können wir schliesslich verstehen, bevor das Stück unvermittelt abbricht.

Noch stärker in Richtung Performance öffnet sich die Musik in den drei anderen Stücken des Eröffnungsprogramms. In Hirn & Ei (2010/11) gibt Carola Bauckholt den vier Perkussionist*innen kein umfangreiches Schlagzeugarsenal an die Hand, sondern kleidet sie lediglich in Gore-Tex-Jacken (sie empfiehlt sogar konkrete Marken). Mit ihnen lassen sich allerdings überraschend vielfältige geräuschhafte Klänge erzeugen: klopfend und reibend, indem man mit einer Telefonkarte über den Ärmel wischt oder am Reissverschluss zieht. Bauckholt notiert die sich teils komplex überlagernden Rhythmen in der Partitur genau; ausserdem gibt sie Gesten und Bewegungen der Spieler*innen vor, sodass jede Aufführung eine stark theatrale Dimension erhält – mit einem guten Schuss Humor. Und natürlich beginnt diese Regenjackenmusik mit einem «Regentropfen-Prélude», gespielt auf leeren Konservendosen und Gummibändern.

Musiker*innen sind regelmässig mit Papier konfrontiert: mit den Notenblättern, aus denen sie musizieren (auch wenn diese zunehmend durch digitale Alternativen abgelöst werden). In Kotoka Suzukis In Praise of Shadows jedoch spielen sie sogar auf Papier. Die japanische Komponistin, die an der University of Toronto lehrt, hat dieses 2015 entstandene Stück für Papierinstrumente komponiert – für Flöten und Glocken, Shaker und Besen aus Papier – und ihrer Partitur die entsprechenden Bastelanleitungen vorangestellt. Das Ergebnis: eine faszinierende Klangwelt, in der es leise raschelt und knistert, «herangezoomt» durch Mikrofone und ergänzt um elektronische Sounds. Angeregt wurde Suzuki durch den gleichnamigen Essay ihres Landsmanns Tanizaki Jun’ichirō aus dem Jahr 1933: So wie Tanizaki damals eine spezifisch japanische Ästhetik des Halbdunkels entwarf, die vom Siegeszug des elektrischen Lichts bedroht werde, setzt sich Suzuki mit dem «kollektiven Verlust des Konkreten, Greifbaren in unserem modernen Leben» auseinander, hervorgerufen durch Digitalisierung und Virtualität. Mit der betonten Materialität ihres Papierensembles wolle sie dagegen «die reale Welt und unsere Präsenz in ihr» betonen. 

Auch die erste Uraufführung des diesjährigen Forward-Festivals, Neo Hülckers neues Stück other spaces, verzichtet weitgehend auf traditionelle Instrumente und arbeitet stattdessen performativ mit dem Körper der Interpret*innen, mit ihrer Stimme und Mimik. Es geht um die besondere Struktur von Träumen – etwa um ihre abrupten Brüche –, vor allem aber auch um Träume als besondere Zeitdokumente. Angeregt wurde Hülcker durch Charlotte Beradts Buch Das dritte Reich des Traums: Die deutsche Journalistin sammelte zwischen 1933 und 1939 die Träume «jedes mir zugänglichen Alltagsmenschen» – und verdeutlichte mit dieser Dokumentation, so Hülcker, «wie sehr der NS-Terror in alle Bereiche des Privaten eingedrungen war». 

Malte Lohmann, Redaktion

Hear these works live at Lucerne Festival Forward