David Hockney, «In the Studio, December 2017», Fotografische Zeichnung gedruckt auf 7 Papierbögen, montiert auf Dibond, 278 x 760 cm, Tate: Schenkung des Künstlers 2018 © David Hockney, assistiert von Jonathan Wilkinson
David Hockney, «In the Studio, December 2017», Fotografische Zeichnung gedruckt auf 7 Papierbögen, montiert auf Dibond, 278 x 760 cm, Tate: Schenkung des Künstlers 2018 © David Hockney, assistiert von Jonathan Wilkinson

Augen und Ohren kommen bei dem berühmten britischen Maler David Hockney gleichermassen zum Einsatz. Als Opernliebhaber hat Musik für Hockney eine besondere Bedeutung, die sich auch in seinem künstlerischen Werk niederschlägt. Der «Wagner-Drive», eine Art audiovisuelle Performance, die Hockney in den 1980er-Jahren in den Hollywood Hills bei Los Angeles aufführt, ist eine rasante Autofahrt auf kurvigen Strassen. Dazu dröhnt aus den Lautsprechern die «West Side Story» oder der «Einzug der Götter in Walhall» aus Wagners Oper «Rheingold». Den wilden Ritt mit dem Auto stellt Hockney auch vielfach malerisch dar. Dabei folgt er nicht den klassischen Regeln der Perspektive, sondern passt das Bild dem Erleben an: Er weitet Strassenkurven aus, sodass es uns beinahe zum Auto hinauszieht und verkleinert Bäume am Strassenrand, wo wir schnell den Hügel hinuntersausen.

Das ständige Justieren des Blicks, den Einfluss des Erlebens oder des Gedächtnisses auf das Sehen nennt David Hockney «Moving Focus», der bewegliche Fokus. Hockneys «Moving Focus» ist nicht nur Kritik der Zentralperspektive, die in der westlichen Kunst seit der Renaissance dominiert, sondern auch künstlerisches Thema, das ihn nicht mehr loslässt. So sucht der Künstler auch mit seinen jüngsten Arbeiten, die er «fotografische Zeichnungen» nennt, nach neuen Möglichkeiten, die Vielfalt der Wahrnehmung darzustellen. Die digitalen Collagen setzen sich aus mehreren Tausend Bildern zusammen, deren Perspektive leicht versetzt ist. Objektränder fransen aus, gewisse Abschnitte sind verpixelt und die Schatten einiger Objekte wirken, also ob sie mit einem digitalen Stift gezeichnet worden wären. Die Illusion des fotografischen Bildes wird mit «In the Studio, December 2017» herausgefordert, gleichzeitig führt Hockney eine imposante Werkschau in seinem Atelier in Los Angeles vor.

Der Ursprung der Werkserie «Moving Focus» liegt weiter zurück und ist einem Zufall zu verdanken. 1984 reist David Hockney nach Mexiko, um eine Ausstellung zu eröffnen. Auf der Rückreise bleibt sein Auto stehen und der Künstler sieht sich gezwungen, in der nahegelegenen Stadt Acatlán im Hotel Romano Angeles zu übernachten. Der malerische Innenhof mit Säulengang und Ziehbrunnen zieht Hockneys Aufmerksamkeit sogleich auf sich. Noch während des ungeplanten Aufenthalts fertigt der Künstler erste Skizzen, ändert immer wieder seine Position und vereint mehrere Perspektiven zu einem Bild. Das Resultat: bunte, kubistisch anmutende Ansichten, die beinahe Schwindel auslösen. Kein Wunder, denn Hockney pflegt zu sagen: «Wenn deine Augen stillstehen, bist du tot.»

David Hockney, «Hotel Acatlan: Second Day», 1984–85, Lithografie auf Papier, 67 x 92 cm, Tate: Schenkung des Künstlers 1993 © David Hockney / Tyler Graphics Ltd.
David Hockney, «Hotel Acatlan: Second Day», 1984–85, Lithografie auf Papier, 67 x 92 cm, Tate: Schenkung des Künstlers 1993 © David Hockney / Tyler Graphics Ltd.

Noch in den 1970er-Jahren malte Hockney vorwiegend im naturalistischen Stil. Die bekannten Doppelporträts «Mr and Mrs Clark and Percy» und «My Parents» sind in dieser Zeit entstanden. Bald merkt der Künstler jedoch, dass die illusionistische Darstellung nicht der Wahrnehmung entspricht, ja sogar ein Fehler sei. Auf einer Reise in China entdeckt Hockney chinesische Rollbilder, die mehrere Perspektiven in einem Bild verneinen. Die lediglich zur Betrachtung ausgebreiteten Bildrollen betonen einzelne Szenen und Geschichten. Anders als in der westlichen Kunst, gibt es mehrere Fluchtpunkte gleichzeitig.

«Die vielleicht grössten Fehler des Westens waren die Einführung des äusseren Fluchtpunkts und des Verbrennungsmotors.»
David Hockney, 2011

Die Multiperspektive übernimmt Hockney auch von seinem grossen Vorbild Picasso. Als Kunststudent besucht er die grosse Ausstellung seines Idols in der Tate gleich mehrmals und ist fasziniert von dessen kubistischen Bildern. In Anlehnung an Picassos Kunst malt er so verschachtelte Interieurs, kubistische Stillleben, und dynamische Porträts. Eines davon ist Hockneys Muse gewidmet, der britischen Modedesignern Celia Birtwell.

David Hockney skizziert für das Porträt seiner Freundin Celia Birtwell © National Gallery of Australia, Canberra, Schenkung Kenneth Tyler 2002, Photo: Kenneth Tyler
David Hockney skizziert für das Porträt seiner Freundin Celia Birtwell © National Gallery of Australia, Canberra, Schenkung Kenneth Tyler 2002, Photo: Kenneth Tyler
David Hockney, «Celia with Green Hat», 1984, Lithografie auf Papier, 76 x 56.5 cm, Tate: Schenkung des Künstlers 1993 © David Hockney / Tyler Graphics Ltd., Photo: Richard Schmidt
David Hockney, «Celia with Green Hat», 1984, Lithografie auf Papier, 76 x 56.5 cm, Tate: Schenkung des Künstlers 1993 © David Hockney / Tyler Graphics Ltd., Photo: Richard Schmidt

Die Retrospektive «Moving Focus» im Kunstmuseum Luzern ist David Hockneys erste umfassende Ausstellung in der Schweiz und leiht sich Hockneys Thema der Serie aus den 1980er-Jahren zum Titel. Denn der Titel steht im übertragenen Sinn für Hockneys ganzes Oeuvre, das sich der stilistischen, medialen und inhaltlichen Vielfalt verschreibt. Arbeiten aus sechs Jahrzehnten, vom Frühwerk, über die bekannten Poolbilder und Doppelporträts, bis zu mehrteiligen Landschaftsbildern und Zeichnungen auf iPad führen diese Diversität eindrücklich vor.

Auf www.hockney2022.ch erzählt das Kunstmuseum Luzern weitere Geschichten aus David Hockneys Leben und über seine Motive.

Beni Muhl, Kunstmuseum Luzern