Guillem Palomar und Jakob Raab © Nik Hunger
Guillem Palomar und Jakob Raab © Nik Hunger

Die «Roche Young Commissions» wurden 2013 als einzigartige Kooperation zwischen Roche, Lucerne Festival und der Lucerne Festival Academy ins Leben gerufen und geben jeweils zwei jungen Komponist*innen die Gelegenheit, Werke für Orchester zu schreiben. Im diesem Rahmen haben der Spanier Guillem Palomar und der Deutsche Jakob Raab über zwei Jahre hinweg neue Orchesterstücke erarbeitet, welche nun im Sommer 2025 zur Uraufführung kommen und die wir hier näher kennenlernen wollen.

Guillem Palomar bei den «Try Out»-Proben zu seinem neuen Werk im Sommer 2024, gemeinsam mit Mentor Dieter Ammann © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Guillem Palomar bei den «Try Out»-Proben zu seinem neuen Werk im Sommer 2024, gemeinsam mit Mentor Dieter Ammann © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Musik als Mosaik: Guillem Palomars «Tessera»

Tessera, der Titel von Guillem Palomars neuem Orchesterstück, bezieht sich auf die kleinen Steine, aus denen sich ein Mosaik zusammensetzt. Er verweist metaphorisch auf die Kompositionsweise des Werks: In einem Mosaik besitzt jedes Teilchen seine eigene Textur, Farbe und Identität, auch wenn es zu einem grösseren Ganzen beiträgt. Ganz ähnlich gestaltet Palomar sein Orchesterstück aus kleinsten musikalischen Bausteinen. Sie werden Variationen und Transformationen unterworfen, die ihre konkreten Details hervorheben, während sich darüber die formale Struktur wie ein grosser Bogen spannt. Im Kern geht es in Tessera um die Interaktion zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen.

Diese Dualität, so Palomar, erlaube es ihm, verschiedene Einflüsse zu versöhnen. Er erinnert an die berühmten Mosaike in Pompeji, aber auch an die maurisch-andalusische Kunst und die Trencadís-Mosaike des katalanischen Jugendstils, etwa von Antoni Gaudí, wie man sie in seiner Geburtsstadt Barcelona finde. Andererseits hätten ihn Richard Taruskins Schriften über Igor Strawinsky inspiriert. Der US-amerikanische Musikwissenschaftler bezeichnete kleinste rhythmische oder metrische Einheiten als «musical ‹tesserae›». Pierre Boulez dagegen sprach von «Zellen» – für Palomar «ein weiter gefasster Begriff. Er impliziert nicht nur, dass die ‹Zellen› zu einer grossen, komplizierten Klanglandschaft gehören, sondern auch, dass sie in diesem Kontext beweglich sind.»

Und genau das, so Palomar, sei die fundamentale Frage, die sich alle Komponist*innen stellten: Welche Beziehung besteht zwischen der kleinsten Struktureinheit und der Grossform eines Werks? In Tessera untersuche er wie schon in anderen seiner Werke, was Form, Syntax und Emotion in der musikalischen Zeit bedeuten. Das Orchesterstück entfaltet sich in drei Teilen, die sich an die althergebrachte Satzabfolge schnell-langsam-schnell anlehnen. «Innerhalb dieses traditionellen Schemas versuche ich aber, neue Möglichkeiten zu erkunden», erklärt Palomar. Dabei breche er mit seinen Gewohnheiten. So fielen die inneren Strukturen der Musik üppiger aus als bisher. Das Material füge sich zu Motiven, Phrasen oder formalen Schichten zusammen, deren hierarchische Abstufung deutlich wahrnehmbar sei. Für Palomar «der vielleicht einzig mögliche Weg, bei dem komplexe oder komplizierte Beziehungen entstehen können».

Jakob Raab bei den «Try Out»-Proben zu seinem neuen Werk im Sommer 2024, gemeinsam mit Mentor Dieter Ammann © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Jakob Raab bei den «Try Out»-Proben zu seinem neuen Werk im Sommer 2024, gemeinsam mit Mentor Dieter Ammann © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Musik über Musik: Jakob Raabs «malo»

Sein neues Orchesterstück malo sei eher untypisch für ihn, meint Jakob Raab. Gewöhnlich verzichte er nämlich darauf, mit eindeutigen Zitaten und deren semantischem Ballast zu arbeiten. Auch scheue er davor zurück, allzu explizite Hinweise auf die ursprüngliche Herkunft seines musikalischen Materials zu geben, da Werkkommentare gerade bei zeitgenössischer Musik das Hörerleben erheblich prägen könnten.

Bei malo jedoch habe er das Gefühl, dass dieses Stück untrennbar mit seiner Inspirationsquelle verbunden sei: mit Benjamin Brittens 1954 uraufgeführter Oper The Turn of the Screw nach Henry James’ gleichnamiger Novelle. Ein Protagonist dort ist der junge Miles, von dem seine übersensible Gouvernante annimmt, er stehe unter dem schlechten Einfluss von zwei verstorbenen, nun als Geister in Erscheinung tretenden Bediensteten. Im Ersten Akt der Oper rezitiert Miles einen pädagogischen Merkspruch aus seinem Lateinunterricht:
Malo: I would rather be
Malo: in an apple tree
Malo: than a naughty boy
Malo: in adversity.

Der Spruch kombiniert sämtliche Bedeutungen des lateinischen Worts «malo». Es bezieht sich auf das Verb «malle» («lieber wollen»), kann jedoch (als Substantiv oder Adjektiv) auch «Apfelbaum», «Unglück», «böse» oder «ungezogen» meinen. Hier eine Aufnahme vom Glyndebourne Festival 2011.

Die Grundidee seines Stücks gehe auf ein Kindheitserlebnis zurück, erzählt Raab. «The Turn of the Screw war eine der ersten Opern, die ich besucht habe. Schon damals hat mich tief berührt, dass dieser naive Kinderreim am Ende der Oper, nachdem Miles an den Geistern seiner Vergangenheit gestorben ist, von seiner ihn in den Armen haltenden Gouvernante noch einmal gesungen wird. Brittens Oper und James’ Novelle rücken Miles’ Verhaltensauffälligkeit, seine mangelnden schulischen Leistungen, seine Unangepasstheit immer wieder ins Zentrum der Geschichte, und der Vers ‹than a naughty boy› aus dem Merkspruch hallt am Schluss der Oper wie eine reuige Erkenntnis der Gouvernante nach.»

Es sind musikalisch-szenische Bilder wie diese, die uns ein ganzes Leben lang begleiten können. Bis wir uns vielleicht dazu entschliessen, uns kreativ mit ihnen zu beschäftigen und uns ihrer so zu entledigen: sie zu übermalen, sie zu verdauen – so zumindest die Hoffnung. Helmut Lachenmann, um ein prominentes Beispiel zu nennen, hat in seinen Werken immer wieder solche Ohrwürmer einkomponiert, beispielweise Paul Linckes Operettenhit Berliner Luft. Auch Jakob Raab kennt das: «Da ich, wie alle Musikerinnen und Musiker, fast pausenlos von Musik umgeben bin, werde ich – auch beim Komponieren – von Ohrwürmern geplagt. Ich habe früh entschieden, diese Erinnerungsfetzen in meine Musik zu inkorporieren, allerdings nie als Zitat, sondern als Ausgangspunkt und Materialfundgrube. Das ermöglicht es mir, mit der nötigen Distanz an den Kompositionsprozess heranzugehen, stammt doch ein Teil des Materials auf diese Weise nicht eigentlich von mir.» Das müsse nicht unbedingt offen deklariert werden, sondern dürfe durchaus das gutgehütete Geheimnis des Komponisten bleiben.

Im Fall von malo habe sich eine Erklärung allerdings aufgedrängt: «Einen anderen Titel hätte ich einfach nicht über das Stück setzen können», meint Raab. Vielleicht auch, weil Brittens Melodie zu schlicht ist, als dass sie sich ohne Weiteres in einen komplexen Orchestersatz integrieren liesse. «Die kleine Arie aus The Turn of the Screw war für mich jenseits der inhaltlichen Faszination ein passender musikalischer Fundus, weil Harmonik und Melodik dieses stilisierten Kinderlieds denkbar einfach sind: parallele Terzen und Quintfälle. Das machte es mir möglich, das Stück in seine Bestandteile zu zerlegen und diese meiner eigenen Musiksprache einzuverleiben.»

Erleben Sie die Uraufführungen der beiden neuen Werke