Joy Guidry © Shala Miller
Joy Guidry © Shala Miller

Discussing Diversity mit Joy Guidry

  • Joy Guidry

    Radikale Selbstliebe, Mitgefühl, Lachen und das Bestreben, schwarze Kunstschaffende zu fördern, stehen im Zentrum des Schaffens von Joy Guidry, Fagottist*in und Komponist*in aus New York City. The San Diego Tribune lobte Joys Performances als «lyrisch und eindringlich … haarsträubend und erschütternd.» Als vielseitige*r Improvisator*in und Komponistin*in experimenteller, gewagter neuer Werke mit einer tiefen Liebe zum Geschichtenerzählen, evoziert Joys Musik das innere Kind und die Referenz an die Vorfahr*innen und Vorgänger*innen.

    Joy studierte Fagott am Peabody Conservatory und bildete sich anschliessend an der Mannes School of Music weiter. Als Komponist*in erhielt Joy Guidry Werkaufträge von The National Sawdust, der Long Beach Opera, dem JACK Quartet und der I&I Foundation. Guidry ist Finalist*in für den Berlin Prize for Young Artists 2021, der im Juni 2022 in Berlin verliehen wird.

Deine Künstler*innen-Biographie beschreibt dich folgendermassen: «radical self-love, compassion, laughter, and the drive to amplify Black artmakers» («radikale Selbstliebe, Mitgefühl, Lachen und das Bestreben, schwarze Kunstschaffende zu fördern»). Wie kommt es, dass diese wunderbaren Attribute dich zu einer Ausnahmeerscheinung in der klassischen Musikszene machen, wo sie doch zum alltäglichen Vokabular einer jeden offenen Gemeinschaft gehören sollten?

Vielen Menschen fällt es schwer, Gefühle auszudrücken. Mir nicht. Man hat mir ein- oder zweimal in meinem Leben vorgeworfen, ich sei «too much». Ich bin sehr extrovertiert, und es ist mir nie schwergefallen, mich in den Mittelpunkt zu stellen. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass Menschen sich verschlossen halten, weil offenes Verhalten negative Reaktionen hervorruft oder weil sie einfach Vertrauensprobleme haben. Es wäre cool, wenn andere Menschen offener wären, aber ich kann definitiv verstehen, warum das nicht passiert.
Bei allen meinen Performances und Kollaborationen versuche ich, prioritär schwarze Leute zu engagieren, vor allem schwarze queere Leute. Ich plane gerade meine Album-Release-Show und gehe alles durch, vom Veranstaltungsort bis zum Outsourcing: Kann die Filmcrew komplett schwarz sein, die Lichtdesigner*innen, alle meine Tänzer*innen, die ganze Band? Da meine Musik so tief im Schwarzsein verwurzelt ist, muss ich sicherstellen, dass ich niemanden im Raum habe, dem ich etwas erklären muss. Wenn es um schwarze klassische Musik geht, aber vor allem in der schwarzen zeitgenössischen klassischen Welt, weiss ich nicht mehr so recht, wo ich hingehöre. Ich möchte unter meinen Leuten bleiben, während ich neue Räume betrete und in einer fremden Welt heimisch werde.

Ein Vortrag, den du an der School of Performing Arts an der Virginia Tech gehalten hast, trug den Titel Decolonizing My Musical Practice. Kannst du zusammenfassen, was das beinhaltet? Sollte deiner Meinung nach auch ein Veranstalter wie Lucerne Festival über die eigene Dekolonisation nachdenken?

Meine Studierenden – ich unterrichte hauptsächlich schwarze und dunkelhäutige Menschen – konfrontiere ich mit allen Arten von Musik. Ich weiss, dass sie viel RnB, Hip-Hop und Rap hören, also integriere ich das in unseren Musikunterricht. Ich werde nicht sagen: «Ich möchte, dass ihr euch mit dieser Pavarotti-Aufnahme identifiziert.» Sie alle hätten das nötige musikalische Verständnis dafür. Aber ich kann auch einfach sagen: «Wisst ihr, wie Lauren Hill dies singt oder Jazmine Sullivan das – was bedeutet das für euch?» Dies führt zu einem viel schnelleren Prozess, und das gefällt mir. Ich möchte betonen, dass man klassische Musik nicht nur aus der Perspektive der klassischen Musik unterrichten soll, sondern auch aus der Perspektive des Rock’n’Roll, des Rap oder des Bluegrass. Denn Musik ist Musik.
Und dann die Sache mit Luzern … Ich habe oft darüber nachgedacht, mich als Fagottist*in bei der Lucerne Festival Academy zu bewerben, aber die ausgewählten Fagottstücke auf der Vorspiel-Liste frustrieren mich irgendwie. Denn sie sind zeitgenössische Musik alter Schule. Ich glaube, das neueste Stück ist Olga Neuwirths torsion. Ein aussergewöhnliches Stück – aber es gäbe so viele andere: Das Fagottstück von Jessie Cox ist unglaublich und wirklich schwer, es gibt Solo-Komposition von Liza Lim, von Michele Abondano usw. Da ich weiss, was bei der Bewerbung verlangt wird, habe ich einen sehr guten Einblick davon, was auf den Konzertprogrammen steht. Meine Freunde, die an der Academy teilgenommen haben, sagen mir: «Wir wissen nicht, ob dir das wirklich gefallen würde.» Die Musik, sagen sie, sei einfach sehr weiss und meist von Männern geschrieben. Ich denke also, dass hier eine Dekolonisation stattfinden muss.
Ich weiss nicht viel über die Geschichte von Lucerne Festival, aber müsste ich raten, würde ich sagen, dass es nicht viele Programme mit Werken schwarzer Komponist*innen gibt. Es läuft also darauf hinaus: Wollt ihr, dass dies geschieht? Dann lasst es einfach geschehen. Ihr stellt eine*n Schwarze*n als Kurator*in ein, und es wird gemacht.

Während der Mangel an ethnischer Vielfalt in der klassischen Musik nach wie vor sehr aktiv diskutiert wird, scheint die Branche – auf den ersten Blick – relativ offen gegenüber Musiker*innen der LGBT+-Gemeinschaft. Ist das eine naive Annahme?

Ich halte sie für naiv: Die Akzeptanz gilt nur gegenüber konventionell weissen queeren Personen. Ericka Hart ist eine wunderbare Community-Sprecherin, Autorin und Sexualpädagogin aus New York. Sie spricht darüber – ich zitiere –, dass Queer-Sein niemals von Rassismus freisprechen wird.

In einem Interview für den Berlin Prize for Young Artists sprichst du darüber, wie blockiert du durch das immer gleiche klassische Repertoire warst und wie du angefangen hast, andere Musik zu spielen, obwohl deine Lehrer dies nicht guthiessen. Wie verlief dieser Prozess und was war die wichtigste Erkenntnis, die du anderen Musiker*innen oder Musikliebhaber*innen, die ein vielfältigeres Repertoire entdecken möchten, mit auf den Weg geben möchtest?

Der Wechsel erfolgte, nachdem ich das Peabody Conservatory verlassen hatte. Nach meinem letzten Studienjahr ging ich als Stipendiat*in des International Contemporary Ensemble ans Banff Centre for Arts and Creativity. In jenem Sommer studierte ich bei George Lewis, Matana Roberts und Mazz Swift, und diese drei schwarzen Künstler*innen haben meine Welt auf den Kopf gestellt. Es gab so vieles, das ich nicht wusste. Ich wusste nicht, dass es Afrofuturismus gibt; ich wusste nicht, wer Julius Eastman oder Lisa E. Harris und so viele andere sind. Diese visuelle und auditive Repräsentation hat mich total verändert und mir eine neue Welt eröffnet.
Ich versuchte weiterhin, eine Anstellung im Orchester zu bekommen, aber es fühlte sich einfach nicht richtig an. Allerdings bin ich in Texas aufgewachsen und deshalb sehr wettbewerbsorientiert: Wenn ich etwas mache, dann mache ich es auch richtig gut. Also übte ich immer noch viel fürs Orchester und konnte schliesslich am Spoleto Festival USA teilnehmen. Ich war sehr stolz, dort aufgenommen worden zu sein, aber mir wurde klar, dass ich nicht dieselbe Freude an Oper und klassischer Musik habe wie alle anderen. Ich sprach mit anderen Stipendiat*innen, und sie haben mich auf eine sehr ermutigende Weise gedrängt: «Das Leben ist kurz – mach, was du machen willst. Wir sind alle talentiert, wir haben es in dieses tolle Programm geschafft. Nimm dein Talent und setz deine Energie dafür ein.» Als ich vom Spoleto-Festival nach Banff zurückkehrte, hatte ich die Einstellung: «Ich habe mit dem Orchesterspiel noch nicht abgeschlossen, aber ich habe es satt vorzuspielen, ich habe es satt zu versuchen, ein Leben zu führen, das ich nicht will.» Ich habe begonnen, mich ernsthaft mit der Improvisation zu beschäftigen. Dann kam Corona in die USA, und alles stand still. In dieser Zeit erarbeitete ich meine erste EP, mein erster grosser Sprung in die Welt eigener Musik … und es lief wirklich gut! Die Repertoirumstellung ging also schnell vonstatten, aber ich würde nie wieder zurückgehen.
Wenn ich an Universitäten Vorträge halte, frage ich das Publikum immer, ob sie Solange, Jazmine Sullivan, Jennifer Hudson oder Ari Lennox kennen – und das tun sie nicht. Ich sage dann: «Das wusste ich, denn ich kann es an eurem Sound erkennen, dem der Sinn für Lyrik fehlt.» Es macht mich traurig, dass es so viele Leute gibt, die sagen, sie würden für Vielfalt kämpfen und versuchen, ihre Musik zu verändern, und doch immer nur Musik weisser Menschen hören. Wenn du dich weiterentwickeln willst, dann probiere einfach alles aus. Ich habe kürzlich einen Tweet gelesen: «Künstler*innen wären sicher in vielen Kunstformen aussergewöhnlich, aber uns wird beigebracht, nur in dieser einen Sache gut zu werden.» So viele Interpret*innen könnten erstaunliche Komponist*innen ganz verschiedener Arten von Musik sein. Ich hätte nie und nimmer gedacht, dass ich mich mit elektronischer Musik beschäftigen würde – und jetzt habe ich ein Album fertiggestellt! Ich musste es einfach ausprobieren und es versuchen, das liebe ich.

Sprechen wir über deine Arbeit als Komponist*in. In dem bereits erwähnten Interview sagst du: «Ich bin schwarz, nicht-binär, dick und all diese grossartigen Dinge.» Wie spiegelt sich das in deinen Kompositionen wider?

Ich versuche, mich zu lieben, und ich liebe mich – aber die Welt will nicht, dass ich mich liebe. Darüber spreche ich in meiner Musik sehr offen, insbesondere in den Titeln und in den Programmhinweisen. Alle meine bisherigen Stücke, die ich für andere Leute geschrieben habe, sind in dieser Hinsicht sehr geradlinig.

Komponierst du anders, je nachdem ob ein Stück von schwarzen oder weissen Interpret*innen uraufgeführt wird?

Ich bin nicht sicher, ob sich diese Situation schon ergeben hat. Würde ich für eine nicht-schwarze Person schreiben, wäre es wahrscheinlich etwas eher Spirituelles, Ambiente-mässiges. Ein Stück, an dem ich diesen Winter gearbeitet habe, erzählt die Geschichte von Menschen, die wegen eines Familienkonflikts über Weihnachten nicht nach Hause fahren können. Das Stück wurde für eine farbige Frau geschrieben, aber es kann von allen aufgeführt werden, denn die Geschichte ist für Menschen jeder Hautfarbe nachvollziehbar. Ich mag es, schwierige Themen zu behandeln, aber sie müssen nicht direkt mit meiner Kultur verbunden sein.
Beim Stück, das ich für Luzern schreibe, habe ich beschlossen, dass es nur von Schwarzen gespielt werden kann, weil es einfach ein viel zu tiefgründiges Thema ist.

Kannst du uns denn schon mehr über dieses Stück verraten, das du für Aaron Akugbos Solo-Debüt bei Lucerne Festival komponierst?

Es handelt von der sogenannten «Middle Passage», als die Sklavenschiffe uns raubten und in die verschiedenen Teile der Welt verschleppten. Viele versklavte Afrikaner*innen sprangen von den Schiffen oder wurden von Bord gestossen. Es ist ein brutales Thema, aber über diese Dinge muss gesprochen werden.
Es ist das schwierigste Stück, das ich je in meinem Leben geschrieben habe, es ist einfach eine so schreckliche Geschichte. Als ich die Sound-Kulisse dafür entwickelt habe, musste ich immer wieder Pausen einlegen, weil es für mich emotional einfach nicht funktioniert hat. Sie werden die Wellen hören, Sie werden die Schritte hören, Sie werden die schleifenden Ketten hören und den Fuss, der vom Boot abrutscht. Am Ende steht ein Interview mit Fannie Lou Hamer, einer prominenten Aktivistin der Bürgerrechtsbewegung. Es stammt aus dem Jahr 1968 und enthält die berühmte Aussage «they know what they’ve done to us» («sie wissen, was sie uns angetan haben») – und so habe ich auch das Stück genannt.
Aaron wird das grossartig interpretieren. Wir verwenden Trompete mit Harmon-Dämpfer, nicht gedämpfte Trompete, Gesang … Ich bin schon ganz aufgeregt. Um ehrlich zu sein, war die Trompete nicht meine erste Wahl, bis ich von dem wunderschönen Harmon-Dämpfer erfuhr. Aaron ist unglaublich, und es war wirklich wunderbar, mit ihm zusammenzuarbeiten.