Sofia Jernberg © Jon Edergren
Sofia Jernberg © Jon Edergren

Konzertprogramm

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Werkkommentar

  • Clara Maïda über «Web studies» (2016)

    Die Idee zu Web studies kam mir, als ich mich in New York aufhielt. Ich durchstreifte die Stadt und war äusserst beeindruckt von der Struktur der Brooklyn Bridge und ihrem System miteinander verflochtener Kabel, das auf verblüffende Weise an ein Spinnennetz (engl. «web») erinnerte. Die netzartige Architektur und der Begriff «web» erinnerten mich sofort an die eher virtuelle Architektur jedes Netzwerks, von denen eines im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte immer stärker in unseren Alltag eingedrungen ist: das Internet (das «World Wide Web»). Auf struktureller Ebene haben uns die Nanowissenschaften gelehrt, dass lebende und nicht-lebende Materie aus denselben Bestandteilen besteht. Jedes System – sei es biologisch, psychisch oder technologisch – resultiert aus der Verbindung kleinster Einheiten, die durch mikroskopische Kräfte immer neu verbunden oder gelöst werden. Seit jeher hat mich die paradoxe Beobachtung fasziniert, dass die Beweglichkeit eines Systems gleichermassen von Mikrobindungen wie Mikrobrüchen abhängt.

    In Anlehnung an das komplexe Fadengeflecht meines Streichquartetts …, das spinnt … (es bildet den zweiten Teil meiner Werkreihe www) lassen sich die drei Stücke von Web studies (Web-wake, Web-wave und Web-wane) als eine Reihe von Reflexionen über das Netz betrachten: als drei Aktualisierungen der unendlichen Möglichkeiten, die ein Netzwerk dadurch bietet, dass Verzweigungen, Umkehrungen, Ballungen und plötzliche Brüche an jedem Punkt und jederzeit auftreten können. Es ist interessant, sich selbst sowohl als Individuum wie auch in kollektiver Hinsicht am Schnittpunkt der Linien eines Diagramms vorzustellen. Denn jede Mikrobewegung an einem Punkt des Netzes hat Bewegungen in den umliegenden Zonen zur Folge. In unserer hypervernetzten Welt manifestiert sich diese Eigenschaft eines Systems: Jede einzelne Handlung, wie trivial sie auch erscheinen mag, kann unerwartete Auswirkungen haben und immense Umwälzungen bewirken, die den ganzen Planeten betreffen – im Guten wie im Schlechten und mit einer Geschwindigkeit, die vor der Einführung des Internets undenkbar war.

    Der Titel Web-wake spielt mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs «wake», der sowohl eine Totenwache als auch die Wiederbelebung eines Toten meinen kann. Er bezieht sich überdies auf das Kielwasser eines Schiffs oder auf die Aktion, die auf ein Ereignis folgt. Zusammen mit der Postposition «up» kann es «aufwecken» bedeuten oder, im übertragenen Sinne, «sich etwas bewusst machen» bzw. «jemanden auf etwas aufmerksam machen». Mein Stück spielt mit der Bedeutungsoffenheit des Begriffs und entwickelt unterschiedlich stark wahrnehmbare «Klang-Kineme», die sich durch alle drei Stücke ziehen: Pendelbewegungen, elastische absteigende Motive sowie übereinandergeschichtete pianistische Texturen, bei denen sich Abwärts- mit versuchten Aufwärtsbewegungen abwechseln – was den Eindruck von Instabilität evoziert: einen Verlust des Gleichgewichts, den daraus resultierenden Sturz und das Bemühen, sich wieder aufzurichten.

    In Web-wave ist das Klangmaterial fiebrig und konvulsivisch. Kaleidoskopartige Klangobjekte präsentieren die Elemente, aus denen sie bestehen, in immer neuen Konstellationen. Die extrem schnelle Artikulation, die von Brüchen durchsetzte Abfolge der Ereignisse und die brutalen Verdrehungen der Textur erzeugen eine Vielzahl von Mikrowellen, die jede Struktur auflösen und das musikalische Gewebe zerreissen. Die Klangdichte variiert ständig, oszilliert zwischen Clustern, in denen sich die Materie verdichtet, und feinen, zart gespannten Fäden, die plötzlich auftauchen und in der Leere zu schwingen scheinen. Die ständige Unruhe ist ein Faktor, der das musikalische Material gleichzeitig zusammenhält und auseinandertreibt.

    Das letzte Stück, Web-wane, spielt auf den Niedergang, den Verfall («wane») an. Musikalische Elemente kehren wieder, aber in ihrer Wiederholung verflüssigen sie sich, verlieren an Dichte und verschwinden schliesslich.

    Umwälzung, Mutation und Hybridisierung: Das sind die drei Charakteristika dieser Werkreihe. Sie vergegenwärtigen unsere unruhige Zeit und unsere Konfusion angesichts fehlender klarer Orientierungspunkte. Das präparierte Klavier und der Einsatz verschiedener Objekte, mit denen ich die Instrumente erkunde, vermitteln das Gefühl, wir stünden «mutierten» Saiteninstrumenten gegenüber. So entsteht ein «Zwischengebiet», in dem sich die akustische Identität der Instrumente sukzessive verunklart. Sie verschmelzen zu einem neuartigen hybriden Klang, der aus der Verbindung der erweiterten instrumentalen Möglichkeiten und dem Einsatz von Elektronik entsteht. Das interaktive 3D-Video macht die komplexen Verzweigungen des Klangs visuell erfahrbar.

    Die drei Stücke von Web studies sind den weltweiten Opfern von Gewalt und menschlichem Wahnsinn gewidmet.

    Weitere Informationen zu Clara Maïda und ihrem Schaffen finden Sie hier.

Podcast

(Episode auf Englisch) Gespräch mit der Schwedischen Sopranistin Sofia Jernberg, die im Eröffnungskonzert der dritten Ausgabe von Lucerne Festival Forward zu erleben ist. Im grössten Kinosaal der Schweiz – dem Filmtheater des Luzerner Verkehrshaus – erkundet sie sowohl die intime wie auch die synästhetisch-überwältigende Kraft der Musik